Gebaute Utopien in den Franckeschen Stiftungen

von 2. Mai 2010

Noch sind Maler und Bauarbeiter in der zweiten Etage des historischen Waisenhauses der Franckeschen Stiftungen zu Gange. Bis Samstag haben sie noch Zeit, dann wird die neue Jahresausstellung eröffnet. Die neue Schau steht unter dem Thema “Gebaute Utopien: Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe”.

Das wohl größte Modell, das Teil der Ausstellung wird, kommt aus Gotha. Schloss Friedenstein, ein Bauwerk aus der Jugend August Hermann Franckes, ist er doch in Gotha aufgewachsen und zur Schule gegangen. Am Freitag konnten die Ausstellungsmacher die Einzelteile des fast 10 Quadratmeter großen Holzmodells bewundern.

Über 400 Objekte werden ab kommenden Samstag in der Schau zu sehen sein. Zwei Jahre wurde in Archiven und Bibliotheken in ganz Deutschland, den Niederlanden und Dänemark bis hin zu Sammlungen in den USA recherchiert. Nun wollen die Ausstellungsmacher die Franckeschen Stiftungen inmitten der europäischen Architekturgeschichte positionieren. Sie zeichnen die Entstehungsgeschichte des europaweit einzigartigen Baudenkmals der Schularchitektur nach und wollen damit im 20. Jahr ihres Wiederaufbaus einen deutlichen Akzent auf dem Weg zur Anerkennung als UNESCO-Welterbe setzen. Das Bauensemble umfasste bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein Waisenhaus von schlossartiger Dimension, mehrere Schulen, eine Bibliothek, eine Druckerei, ein Krankenhaus sowie spezialisierte Wirtschafts- und Funktionsgebäude. Eine idealtypische Anlage, deren Modell bald europaweit ausstrahlte. Religiöse Siedlungen sowie Stadtneugründungen in Deutschland, Skandinavien, West- und Osteuropa, Südindien und an der Ostküste Nordamerikas wurden von der Gesamtanlage der heutigen Franckeschen Stiftungen beeinflusst.

Inszeniert wird die Jahresausstellung von den Leipziger Kreativen KOCMOC, die zu einer Zeitreise durch das Verständnis von Architektur einladen. Vergessene Fotografien, unbekannte Pläne und einzigartige Modelle lassen die Ideen- und Baugeschichte der Franckeschen Stiftungen seit der Frühen Neuzeit aufleben und machen in ihrem Zusammenspiel die Verbindung von Architekturtheorie, utopischen, pietistischen und politischen Entwürfen sowie alltäglichen Lebensbedürfnissen transparent. Auf faszinierende Weise wird so die untrennbare Wechselbeziehung von Architektur, Gesellschaft und Leben beschrieben. Eben dieser Zusammenhang bestimmte auch den Umgang mit der Schulstadt in der Moderne. Über 300 Jahre war auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen gebaut worden. Die Enteignung im Jahr 1946 läutete erstmals in der Geschichte der Schulstadt einen unverantwortlichen Verfall des Gebäudeensembles ein. Wie konkret in der DDR mit dem Erbe der Stiftungen umgegangen wurde, welche Pläne es für die Hochstraße nach Halle-Neustadt gab und welchen Platz die Franckeschen Stiftungen innerhalb der "Sozialistischen Rekonstruktion der Altstadt Halles" in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einnehmen sollten, konnte erstmals im Vorfeld der Ausstellung detailliert recherchiert werden.

Besonderes Augenmerk legte der Kurator der Ausstellung Holger Zaunstöck auf den Begleitkatalog. Acht Hauptessays korrespondieren mit den Räumen in der Ausstellung und erschließen gleichzeitig darüber hinausgehende Themenfelder. Ausgehend von der Zukunft der Stadt in der Frühen Neuzeit werden Sichtfelder frühneuzeitlicher Funktion und moderner Struktur aufgedeckt: Repräsentation und Funktion, Ordnung und Perspektive, Autonomie und Autarkie und nicht zuletzt im konkreten Bezug auf die Franckeschen Stiftungen die Frage nach der Göttlichen Providenz: Singularität oder Multiplizität stehen im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betrachtungen.

Zu sehen ist die Ausstellung bis 3. Oktober immer Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr. Das Begleitprogramm sowie weitere Bilder der Ausstellung finden Sie auf Seite 2.

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Begleitprogramm
Eröffnung am 8. Mai 2010, 16.00 Uhr
"Vorwärts, wir müssen zurück – Zum Neohistorismus unserer Gegenwartsarchitektur
"Festvortrag von Dr. Dieter Bartetzko, Architekturkritiker und Publizist
Freylinghausen-Saal

Historisches Lindenblütenfest
Sa / So 19./ 20. Juni
Abenteuer Bauen. Von der Hütte zum Palast

Alle zwei Jahre entführt das Historische Lindenblütenfest rund 15000 Besucher ins 18. Jahrhundert mit Schaustellern, Musikern, Künstlern und über 100 Mitmachangeboten. In diesem Jahr werden die Stiftungen – wie fast immer in ihrer Geschichte -selbst zur Baustelle: Alles wird sich um das Bauen von Räumen, Häusern und Städten drehen. Was macht ein gutes Haus aus, wie bauen die Menschen rund um den Globus, wie bauen Tiere? Welche Tätigkeiten gehören zum Bau? Wie brennt man Ziegel? Kleine und große Baumeister können nach Herzenslust forschen, nach eigenen Entwürfen bauen, kleine und große begehbare Räume schaffen.

Mittwochsvortragsreihe
19. Mai, 18 Uhr
Das Eingangsensemble der Franckeschen Stiftungen – Zur Baugeschichte und zum aktuellen Baugeschehen. Führung über den Franckeplatz
Dr. Thomas Müller-Bahlke und Dr. Claus Veltmann, Franckesche Stiftungen

26. Mai, 18 Uhr
Das Schulhaus als die Mitte der neuen Stadt.
Der Neuruppiner Wiederaufbauplan von 1787, Franckes Pädagogik, Christian Wolffs Mathematik und die preußische Stadtplanung im 18. Jahrhundert.
Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Reinisch, Humboldt-Universität Berlin

2. Juni, 18 Uhr
"instituit et aedificavit"…?
Bauherr und Baumeister in der frühen Neuzeit – Bemerkungen zu einem komplizierten Verhältnis
Vortrag von PD Dr. Meinrad von Engelberg, Technische Universität Darmstadt

9. Juni, 18 Uhr
Wer plante und baute die Franckeschen Stiftungen ?
Führung durch das historische Ensemble der Franckeschen Stiftungen
PD Dr. Holger Zaunstöck, Franckesche Stiftungen

16. Juni, 18 Uhr
Der preußische und sozialistische Schulbau in den Franckeschen Stiftungen
Prof. Dr. Dieter Dolgner, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Friederike Lippold, Franckesche Stiftungen
Einführungsvortrag und Führung zu den Schulen auf dem Gelände